23/30. August 2001

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Chadrel Rinpoche laut offizieller Aussage "noch im Gefängnis"

Die chinesischen Behörden gaben zu, daß Chadrel Rinpoche, der hohe Lama, der seinerzeit die Suche nach der Reinkarnation des Panchen Lama leitete, immer noch inhaftiert ist, obwohl seine 6-jährige Haftstrafe am 17. Mai ausgelaufen ist. Es gab keine weiteren offiziellen Informationen über den derzeitigen Aufenthaltsort oder den Gesundheitszustand des 62-jährigen ehemaligen Abtes des Klosters Tashilhunpo in Shigatse, dem traditionellen Sitz des Panchen Lama. Inoffiziellen Quellen zufolge wurde er wegen der politischen Brisanz des Falles in einem Hochsicherheitsgefängnis außerhalb der Autonomen Region Tibet in der Provinz Sichuan festgehalten. Das Eingeständnis, daß er noch in Haft ist, erfolgte durch Gyaltsen Norbu, den ehemaligen Regierungschef der Autonomen Region Tibet (TAR) auf wiederholte Fragen einer polnischen parlamentarischen Delegation, die vom 8 - 10. August in Lhasa weilte. Es ist selten, daß tibetische politische Gefangene über ihr planmäßiges Entlassungsdatum hinaus noch festgehalten werden.

Der polnischen Delegation wurden auch Photos versprochen, die angeblich den vom Dalai Lama als Panchen Lama anerkannten Knaben darstellen sollen. Der 12-jährige Knabe und seine Familie verschwanden im Mai 1995 aus ihrem Haus in Lhari (Präfektur Nagchu) in der TAR und werden chinesischen Aussagen zufolge in "Schutzgewahrsam" gehalten. Peking verweigert trotz Bitten westlicher Regierungen weiterhin unabhängigen Personen Zugang zu dem Jungen. Ragdi, Vizeparteisekretär der TAR und Vorsitzender des ständigen Ausschusses des regionalen Volkskongresses, erklärte der polnischen Delegation, Gendun Choekyi Nyima befinde sich "weit weg" von Lhasa, weshalb die Bilder nicht sofort beigebracht werden könnten.

Einer der polnischen Delegierten berichtete, Gyaltsen Norbu, jetzt ebenfalls ein Vizeparteisekretär, sei "sichtlich verärgert" gewesen über die wegen des Verbleibs von Chadrel Rinpoche und Gendun Choekyi Nyima gestellten Fragen. Er hätte geantwortet, Chadrel Rinpoche "leiste noch seine Haftstrafe ab", weil er "Staatsgeheimnisse preisgab, indem er den Namen des Knaben, in dem man den Panchen Lama vermutete, herausgab, bevor die Genehmigung der Regierung vorlag". Diese Aussage scheint zu bestätigen, daß einer der Gründe, weshalb die Chinesen über Chadrel Rinpoche verärgert sind, seine vermeintliche geheime Absprache mit dem Dalai Lama bei der Bekanntgabe der Entscheidung über die Reinkarnation ist, noch ehe China dies tun konnte. Chadrel Rinpoche soll sich besonders den Groll der Vertreter der harten Linie in der Regierung der TAR sollen zugezogen haben. Einem Bericht zufolge warfen die TAR-Funktionäre ihm vor, er hätte die Autorität der TAR mißachtet, indem er sich direkt an die Zentralregierung wandte, um ihre Billigung der vom Dalai Lama verkündeten Wiedergeburt zu suchen.

Chadrel Rinpoche, der von der chinesischen Regierung zum Leiter der Suchkommission nach dem Panchen Lama ernannt wurde, verschwand im Mai 1995, nachdem der Dalai Lama den Namen des Kindes (Gendun Choekyi Nyima), das er als Panchen Lama identifiziert hatte, bekanntgab. Die Chinesen ließen ihre Wut an den an der Suche nach der Reinkarnation Beteiligten aus - im November desselben Jahres nannte die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua Chadrel Rinpoche "Abschaum des Buddhismus". Chadrel Rinpoche wurde wegen des "Verbrechens der Spaltung des Mutterlandes" und "Konspiration mit den separatistischen Kräften im Ausland" verurteilt. Ihm wurde außerdem vorgeworfen, Staatsgeheimnisse enthüllt zu haben, was sich wohl auf einen Brief bezieht mit den Namen von 25 Knaben, die als mögliche Wiedergeburten infrage kamen, und den er anscheinend im Dezember 1994 an den Dalai Lama schickte.

Die chinesische Regierung gab erst 1997 zu, daß Chadrel Rinpoche verurteilt und ins Gefängnis geworfen worden war. Inoffiziellen Berichten von 1997 nach war er in dem Gefängnis No. 3 von Chuandong in Ost-Sichuan, 300 km östlich von Chengdu, eingesperrt. Den TIN Quellen zufolge soll Chadrel Rinpoche vor seiner Festnahme erklärt haben, daß er den 9-jährigen Gyaltsen Norbu, Chinas Wahl des Panchen Lama, der im Dezember 1995 offiziell inthronisiert wurde, nicht anerkennen würde.

Die polnischen Abgeordneten erzählten, bei ihrem Besuch in Lhasa hätten Gyaltsen Norbu und die anderen Funktionäre zuerst so getan, als würden sie die Frage über Chadrel Rinpoche nicht verstehen. Sowohl Gyaltsen Norbu als auch Ragdi sollen im Juli 1995, zwei Monate, nachdem der Dalai Lama Gendun Choekyi Nyima als die 11. Inkarnation des Panchen Lama verkündet hatte, die Ermittlungen in Chadrel Rinpoches Fall geleitet haben.

Der Solidarnosc-Abgeordnete Grzegorz Piechowiak, ein Delegationsmitglied, berichtete TIN: "Das wenige an Information, das wir bekamen, erfolgte erst, nachdem wir immer wieder dieselben Fragen bei mehreren Gesprächen mit den Regierungsvertretern stellten, die stereotyp antworteten, Gendun Choekyi Nyima sei nicht der richtige Panchen Lama. Wir entgegneten, das sei uns egal, es ginge uns um ein menschliches Wesen, und wir kämen von einem Land, wo die Leute nur allzu gut wissen, was plötzliches Verschwinden bedeutet. Sie gaben uns bloß die Standardantworten, dem Jungen ginge es gesundheitlich gut und er lebe bei seiner Familie. So stellten wir bei einem Abendessen am letzen Abend unseres Besuches, bei dem auch Ragdi anwesend war, erneut all die gleichen Fragen. Obwohl er zuerst sagte, daß sie auf unsere Bitte um Photos des Panchen Lama nicht vorbereitet seien, versprach er schließlich, uns Kopien der Bilder nach Warschau zu senden".

Im Oktober letzten Jahres zeigte eine chinesische Menschenrechtsdelegation britischen Regierungsvertretern Photos eines tibetischen Jungen, der dem Photo des 6-jährigen Gendun Choekyi Nyima gleichen soll, aber die Briten baten nicht um deren Aushändigung. Piechowiak sagte TIN, wenn die von den Chinesen der Delegation zugesagten Photos von Gendun Choekyi Nyima bis nächste Woche nicht in Warschau eintreffen, würden sie die Sache mit einem Brief an die chinesische Regierung weiter verfolgen.

Die Delegierten, die auf eine von chinesischen Vertretern in Warschau besuchten Konferenz hin zu einem Austauschbesuch eingeladen wurde, erklärten bei einer Pressekonferenz in der polnischen Hauptstadt gestern, daß sie in Lhasa unter ständiger Überwachung gestanden hätten. Abschließend meinten sie: "Der ganze Prozeß des Fragens nach Menschenrechten in Tibet ist, wie wenn man Steine an eine Backsteinmauer wirft. Von Dialog ist da keine Rede. Wir hatten nicht den geringsten Eindruck, daß irgend etwas, von dem, was wir sagten, bei den Regierungsleuten ankam".

Der TIN News vom 30. August zufolge äußerte Peking im Februar der britischen Regierung gegenüber - wie ein Sprecher des britischen Ministeriums für Auswärtige und Commonwealth Angelegenheiten informierte -, daß Chadrel Rinpoche 1996 zu 6 Jahren verurteilt worden sei und nicht vor Januar 2002 entlassen würde. Er werde in der Provinz Sichuan festgehalten und "sei bei guter Gesundheit". Diese Aussage widerspricht früheren offiziellen Verlautbarungen, daß Chadrel Rinpoche 1997 verurteilt wurde, noch stimmt sie mit anderen Informationen über seine Gefängnisstrafe überein. Chadrel Rinpoche "verschwand" am 17. Mai 1995, und allgemein wurde angenommen, daß er im Mai dieses Jahres entlassen würde.

Das der britischen Regierung genannte Entlassungsdatum Januar 2002 bedeutet, daß die Chinesen die 6-jährige Haftstrafe von Januar 1996 an rechnen, wobei die 7 Monate ab Chadrel Rinpoches Verschwinden im Mai 1995 nicht angerechnet werden. Dies ist eine Verletzung des § 47 des chinesischen Strafgesetzes, wo es heißt, daß bei einer Person, die vor dem formellen Urteilsspruch in Gewahrsam gehalten wurde, auch diese in Untersuchungshaft verbrachte Zeitspanne auf das Urteil anzurechnen ist. Außerdem variieren die Angaben über den Zeitpunkt des Prozesses. Den Briten wurde gesagt, er hätte 1996 stattgefunden, während Xinhua am 7. Mai 1997 mitteilte, Chadrel Rinpoche sei am 21. April 1997 von dem Volksgericht in Shigatse zu 6 Jahren Haft verurteilt worden.

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